Liberating Structures: 5 Dinge, die ich erst nach Jahren wirklich verstanden habe

Ich hatte Ende Juni die grosse Freude endlich einen Liberating Structures Immersion Workshop mit Barry Overeem zu besuchen. Eine Sache, die ich seit Jahren auf meiner Bucket Liste hatte.
Und da wäre er wahrscheinlich noch immer, hätte mich Simon Flossmann nicht ein Jahr(!) vorher (mehrmals) auf den noch nicht veröffentlichten Termin für den Workshop in Amsterdam aufmerksam gemacht… Shout Out und Danke an dieser Stelle an Simon – der Mann weiss, wie man Termine mit mir stattfinden lässt 🙂
Und Shout Out an Barry, denn – obwohl ich Liberating Structures seit Jahren kenne und einsetze – hab ich wohl den Workshop gebraucht, um ein paar Dinge wirklich zu verstehen. Einige will ich hier teilen:
1. Liberating Structures sind Werkzeuge zum Management von Komplexität, keine “Moderationstools”
1-2-4-All, Impromptu Networking, Mad Tea, … was kommt Dir als erstes in den Sinn?
Bei mir war der Gedanke bis vor kurzem noch “Facilitation”-Tools.
Dabei haben Liberating Structures ihren Ursprung in den Komplexitätswissenschaft und der Organisationsentwicklung. Henri Lipmanowicz und Keith McCandless entwickelten 2000 / 2001 Liberating Structures im Zusammenspiel mit Erkenntnissen aus der Komplexitätsforschung. Im Laufe ihrer Forschung stellten sie nämlich fest, dass kleine Anpassungen in der Art und Weise, wie Menschen miteinander interagieren, große Auswirkungen auf die Organisationskultur und die Resilienz haben – was zur Entstehung der LS-Website und ihrer Beratungstätigkeit führte. (Quelle)
Henri & Keith konsolidierten und codifizierten erfolgreich bewährte Strukturen (z. B. 1‑2‑4‑All, TRIZ, Troika Consulting) und wählten bewusst eine Mikrostruktur-Strategie: kurz, klar, wiederholbar, nutzbar ohne Expertenwissen..
Auch etablierten sie eine Debrief-Kultur nach jedem Einsatz, was Lernen und kontinuierliches Anwenden erleichtert. Nutzen also Feedbackschleifen.
Die Strukturen sind bewusst “loose‑tight” gebaut: genug Freiheitsgrad, um Emergenz zu ermöglichen, aber genug Rahmen, um fokussierte Interaktion zu fördern – nämlich die Balance von Struktur und Selbstorganisation
Liberating Structures basieren auf Komplexitätsmustern wie Emergenz, Netzwerkverbindungen, und Rückkopplungsmechanismen aus der Komplexitätsforschung. Lösungsfokus und empirische Prozesskontrolle lassen grüßen.

Mit diesem Blickwinkel machen die (komplexeren) Strukturen wie Panarchy, Wicked Questions, Helping Heuristics oder Improv Prototyping viel mehr Sinn. Gerade auch deshalb, weil sie – in Komplexitätstheorie verankert – nicht unmittelbar jetzt Ergebnisse erzeugen müssen, sondern dennoch wirken. Das Erzeugen von Ripple Effekten, die sich durch die Organisation verbreiten und in einem anderen Zusammenhang weiter wirken.
Mir fällt hier Susanne Burgstaller ein:
How do you change an organisation? Conversation by Conversation.
Susanne Burgstaller

2. Loose oder Tight: Der Tanz zwischen sichernder Struktur und kreativer Freiheit.
Eine weitere Erkenntnis: Es geht nicht um die Timebox. Es geht um das, was in der Timebox passiert.
Zeitboxen sind nützlich – aber die Qualität und Tiefe einer Diskussion sind wichtiger. Manchmal ist es besser, „sich die Zeit zu nehmen“ anstatt sich sklavisch an den Plan zu klammern. Zeitdruck kann Gespräche eher stören als beflügeln.
Und dabei brauchst Du einen Mittelweg.
Zu viel Struktur wirkt mechanisch, bis Du zu strikt, reisst das die Leute aus ihrer inhaltlichen Arbeit und der Fokus wird hektisch und hat zum Ziel “in der Zeit zu bleiben”
Gibst Du zu wenig Struktur und bleibst in Deiner Einladung vage, dann verlierst Du die Leute. Gutes Indiz ist die Rückfrage: “Was soll ich jetzt machen?” 🙂
Finde die Balance!
Eine schöne Variante, die ich gelernt habe ist, nur eine Gesamt-Timebox zu nutzen und in der Einladung klar zu machen, das die Struktur mit mindestens drei unterschiedlichen Partner durchgeführt werden soll. Das gibt Flexibilität im Gespräch und Struktur im Ablauf.
Konkret: “Ihr habt dafür acht Minuten Zeit, wenn ihr die <Einladung> bearbeitet habt, findet einen neuen Partner in dem ihr eine Hand hebt und Euch gegenseitig neu zusammenfindet”. Barry lässt dazu Menschen die Hand heben und – sobald Blickkontakt steht – aufeinander zeigen. Herrlich elegant und unkompliziert.

3. Beginne mit dem Ziel vor Augen – und arbeite rückwärts
Ja, ich weiss, auch das nicht neu. “Start with the Why” (Simon Sinek) oder der “Fokus auf die positive Zukunft” (Lösungsfokus). Bei den Liberating Structures war mir das bisher nie so bewusst.
Bisher habe ich Liberating Structures vor allem für den Fluss meiner Moderation genutzt.Sprich: was braucht die Gruppe als nächste Übung? Energie? Vielleicht Mad Tea? Oder besser 25/10 Crowd Sourcing? Braucht die Gruppe Reflektion? Wertschätzung? Verbindung? Da passt Trojka!
Mächtiger ist, sich zuerst das darüber liegende Ziel klarzumachen und dann zu überlegen, welche Struktur sich dazu anbietet. Beginne also mit dem Ziel und arbeite dann rückwärts!
Die Liberating Structures App LiSA (Appstore, Playstore) der Holisticon bietet hierzu hilfreichen Filter an.

4. Die wahre Herausforderung ist nicht das Finden von Improvements..
… es ist das Verfeinern und Konkretisieren der gefundenen Verbesserungen.
Im Workshop ist mir noch klarer geworden, dass unsere eigentliche Facilitator Aufgabe ist, Teams beim Treffen von Entscheidungen zu unterstützen, die konkret, ausführbar und anfassbar sind.
Und das ist schwer. Eine grosse Verbesserung (“Bessere Kommunikation untereinander”) so zu verfeinern, das sie umsetzbar wird.
Eine Frage, die hier helfen kann:
“Was werden wir MORGEN anders machen?”
Barry Overeem
Mir fallen sofort weitere Fragen aus meiner lösungsfokussierten Praxis ein, wie z.B.:
“Was wären erste Anzeichen, das wir Fortschritt im Bezug auf … machen?”
“Wie messen wir, das wir erfolgreich sind?”
“Woran erkennen das unsere Kunden, Chefs, Stakeholder, …?”
5. Erkenntnis entsteht aus unscheinbaren, oft übersehenen Details
Insight comes from inconspicuous often overlooked details
Keith McCandless

Oh Boy gilt das auch für die Arbeit in diesem Workshop! Neben der Erkenntnis hier links, noch ein paar Weitere – ziemlich unsortiert:
Jede Einladung doppelt aussprechen:
Wiederhole jede Anweisung oder Einladung zu einer Aktivität zweimal, um sicherzugehen, dass wirklich alle verstanden haben, worum es geht.
„Silent Thinking“ schon vor der Struktur: Viele erfahrene Facilitator – wie Barry – beginnen auch bei Formaten, die aus einer Gruppenaufteilung starten (wie z.B. 4-2-1-SNAP) mit einer Minute stiller Reflexion. Das gibt allen Zeit, Gedanken zu sammeln, bevor sie mit anderen ins Gespräch gehen.
Jede Einladung doppelt aussprechen:
Wiederhole jede Anweisung oder Einladung zu einer Aktivität zweimal, um sicherzugehen, dass wirklich alle verstanden haben, worum es geht. Warte mal: Hatten wir das nicht schon? Hatten wir das nicht schon? 🙂
Einladungen mehrdimensional gestalten:
Apropros Einladung: Um das Verstehen der Einladungen zu unterstützen, biete unterschiedliche Blickwinkel an. Also statt “Welche Herausforderung siehst Du mit …?” kann man mit mehreren Blickwinkel anbieten, also “Welche Herausforderung, welches Problem oder welche Zweifel siehst Du mit …?”
Subtil nachsteuern in der Struktur selbst:
Wie häufig kommt es vor, dass die Gruppe trotz guter Einladung irgendwie den “Off-Track” geht? Oft kommen dadurch auch gute Ergebnisse zustande – und machmal steuert man dennoch besser nach.
Barry macht das sanft und elegant, in dem er folgendermassen unterbricht: “Ihr macht das grossartig, UND denkt bitte dran …”. Grossartig, da hier niemand etwas falsch macht UND gleichzeitig die Chance besteht, nochmal auf das eigentliche Ziel hinzuweisen.
Hör auf, Annahmen zu treffen, sondern frag einfach nach.
Und wie häufig kommt es vor, dass Du Dir als Facilitator nicht sicher bist, ob ein Teilnehmer wirklich dabei noch dabei oder nicht vielleicht in Ablehnung gefangen ist?
Gute Workshops irritieren – und nehmen dennoch alle mit.
Was kannst Du also machen, um Dir sicher zu sein, wie es dem einen Teilnehmer (im Widerstand?) geht?
Richtig. In dem Du fragst. Klingt trivial. Ist es aber nicht. Verbind es mit Deiner Wahrnehmung – und frag: “Dein Gesichtsausdruck wirkt auf mich als hättest Du noch eine Frage… Stimmt das?”
Und da ich Dein Gesicht jetzt nicht sehen kann, meine Frage an Dich: Was sind Deine Lieblingsstrukturen? An welche Liberating Structures traust Du Dich (noch) nicht ran? Und über welche Liberating Structures würdest Du gern mehr erfahren?